Ein Weihnachtsgruß von unserer Beirätin Frau Prof. Dr. Birgit Spies
Wie halten Sie es mit Traditionen? Sind beispielsweise die Feiertage für Sie eine willkommene Ruhepause, um innezuhalten und verbunden mit Erinnerungen an vergangene Tage und den Ritualen, die Sie in Ihrer Kindheit liebgewannen und nun selbst wiederholen? Oder haben Sie als moderner und aufgeklärter Mensch mit den Traditionen gebrochen, weil diese überholt erscheinen?
Zur Weihnachtszeit scheinen Bräuche noch fest dazuzugehören. Laut einer Umfrage waren 2022 mehr als 50 % der Menschen in Deutschland die Geschenke, Kekse, Stollen und Lebkuchen, ein weihnachtliches Dekorieren, der Weihnachtsbaum im Haus, der Adventskalender und der Adventskranz sowie die Weihnachtsmusik wichtig (1).
Bild: © freepick
Traditionen verweisen auf »etwas, was im Hinblick auf Verhaltensweisen, Ideen, Kultur o. Ä. in der Geschichte, von Generation zu Generation […] entwickelt und weitergegeben wurde [und weiterhin Bestand hat]« (2). Sie haben im wahrsten Sinne eine lange Geschichte. Es können Jahreszeiten (wie Frühling, Sommerwende und herbstliche Ernte), Lebensabschnitte (wie Geburt, Schulabschluss, Firmenzugehörigkeit und Tod) und Glaubensfeste (Ostern, Pfingsten und Weihnachten) traditionell durch Rituale, einem »wiederholte[n], immer gleichbleibende[n], regelmäßige[n] Vorgehen nach einer festgelegten Ordnung« (3) begangen werden. Auch im täglichen Leben können uns kleinere Rituale begleiten. Dies kann beispielsweise ein wöchentliches Zusammenkommen im Verein, der gemütliche Morgenkaffee oder das abendliche Vorlesen bei kleinen Kindern sein.
Traditionen und Rituale bieten eine Orientierung im Zeit- und Lebensverlauf und schaffen durch meist gemeinsame Handlungen eine – zumindest vorübergehende – Verbundenheit. Sie bieten durch feste Regeln eine klare Struktur, sind vorhersehbar und geben so etwas Sicherheit in einer unübersichtlichen Welt. Damit engen sie gleichzeitig auch ein. So manches Ritual, so manche Tradition scheint längst überholt und sinnentleert. Im Überschwang modernen Denkens wird sie möglicherweise gleich ganz abgeschafft, was nicht ohne Folgen bleiben kann, denn:
Die traditionellen sinn- und identitäts- stiftenden Gruppen und Instanzen (vor allem Familie und Verwandtschaft einerseits sowie Staat, Nation, Kirche bzw. Religion andererseits) verlieren tendenziell an Relevanz und hinter-lassen ein relatives Vakuum, das diskursiv-universalistische Angebote (Weltbürgertum, universalistische Identität […]) bisher (noch) selten einnehmen (können) und in das ver-mehrt irrational-ideologische Angebote […] eindringen (können) (4).
Etliche unserer heutigen Traditionen und Rituale sind auf religiöse Bräuche zurückzuführen. Jedoch verlieren Kirche und Religiosität in Deutschland an Bedeutung, wie eine aktuelle Untersuchung zeigt: 2022 bezeichneten sich nur noch 52% der Deutschen als christlich-konfessionell gebunden (5). Verlieren damit auch Traditionen und Rituale an Bedeutung? Und welches sind die Folgen, wenn Menschen nicht mehr glauben?
Woran glauben wir dann noch?
An digital-technischen Fortschritt beispielsweise, wenn, wie die Bundesregierung ausführt, mithilfe der Künstlichen Intelligenz unser Land gesünder, nachhaltiger und leistungsfähiger werden soll (6).
An die Aussagekraft von wirtschaftlichen Zahlen und Statistiken beispielsweise, wenn sich Lebensbereiche wie Bildung, Gesundheit und Verkehr zunehmend wirtschaftlichen Prämissen unterwerfen müssen.
Auch an Wissenschaft glauben wir, wenn wir davon ausgehen, dass nur die mit wissenschaftlichen Methoden errungenen Erkenntnisse als wahr angenommen und geschätzt werden, erfahrungsgeleitetes Wissen und Weisheit außer Acht lassend.
Vielleicht ist Leben und Gemeinschaft doch mehr als sich in Daten, Zahlen und Fakten ausdrücken lässt?
Mythos, Ritus, Tradition und Intuition wurden als irrationaler Ballast ver- gangener Zeiten angesehen. Aber das Wunderwerk der neuen Dreifaltigkeit – Wissenschaft, Wirtschaft und Tech-nik – brachte Folgelasten, die bis in die Gegenwart aller Industrie- und Informationsgesellschaften wirken.
Der moderne Mensch muss in einer bis zur Sinnlosigkeit aufgeklärten Welt leben! All sein Wissen gibt ihm wenig Sicherheit und befriedigt seinen Verstand nur vordergründig. Zwar fürchtet er sich nicht mehr vor einem Gewitter, weil er sein Zustandekommen rational zu erklären vermag. Aber seine existentielle Angst und Ohnmacht sind geblieben. Nach wie vor plagt ihn die alte Frage nach dem Lebenssinn, die Angst vor dem Unvorhersehbaren und Unerklärlichen (7).
Die Antwort auf die Frage nach dem Glauben muss jeder für sich selbst finden. Doch ob Glauben oder nicht: Ich jedenfalls freue mich auf Adventskerzen, Lebkuchen und Stollen, auf den Weihnachtsmarktbesuch mit Familie und Freunden und auf besinnliche Musik in stiller Stunde – einfach auf die staade Zeit. Dies wünsche ich auch Ihnen.
Zitiervorschlag: Birgit Spies (2023). Die neue Dreifaltigkeit: Wissenschaft, Wirtschaft und Technik. In: Bildung - Mensch - Medien. abgerufen am 27/11/2023 unter https://bildung.hypotheses.org/2629 |
Über die Autorin:
Frau Prof. Dr. Birgit Spies hat mehr als 25 Jahre mediendidaktische Erfahrung und umfassendes praktisches Know-how aus dem IT-, Medien- und Bildungsbereich. Sie ist Professorin für Bildung und Digitalisierung in Hamburg. Frau Prof. Dr. Birgit Spies hält dort u.a. Vorlesungen zu Medienpädagogik, Medien-psychologie und zu Mediendidaktik. arago Consulting unterstützt und berät sie seit vielen Jahren als Mitglied des Beirats in den Bereichen E-Learning und Blended Learning. Als Keynote-Speakerin zu dem Thema Digitalisierung bringt sie ihr Praxiswissen in Vorträgen, Workshops und Seminaren verständlich auf den Punkt.
Mehr über Birgit Spies erfahren Sie unter https://www.prof-birgit-spies.de.
Kontakt: prof-birgit-spies@hamburg.de
Quellen: (alle Links zuletzt abgerufen am 21.11.2023)
(1) Statista (2023). Beliebteste Weihnachtsbräuche. Verfügbar unter: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/948553/umfrage/umfrage-in-deutschland-zu-den-beliebtesten-weihnachtsbraeuchen/
(2) Duden (o.J.). Tradition. Verfügbar unter: https://www.duden.de/rechtschreibung/Tradition
(3) Duden (o.J.). Ritual. Verfügbar unter: https://www.duden.de/rechtschreibung/Ritual
(4) Giese, H. (2000). Einleitung: Zur Renaissance von Ritualen und Ritualtheorie. In: Eschler, S., Griese, H. (2002). Ritualtheorie, Initiationsriten und empirische Jugendweiheforschung. Stuttgart: Lucius & Lucius. S.5.
(5) Kirche und Religiosität verlieren an Bedeutung (2023). Verfügbar unter: https://www.tagesschau.de/inland/regional/badenwuerttemberg/swr-aktuelle-studie-kirche-und-religiositaet-verlieren-an-bedeutung-100.html
(6) Die Bundesregierung (2023). Fortschritte Künstlicher Intelligenz für unser Land nutzen. Verfügbar unter: www.bundesregierung.de/breg-de/themen/digitalisierung/kuenstliche-intelligenz/bundesregierung-staerkt-ki-2224174
(7) Liebertz, C. (2002). Kinder und Jugendliche brauchen Rituale. In: Eschler, S., Griese, H. (2002). Ritualtheorie, Initiationsriten und empirische Jugendweiheforschung. Stuttgart: Lucius & Lucius. S.66
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